Meine Taschenuhr bestätigte meine Vermutung. Unsere Abfahrt verzögerte sich. Das hat sicher gute Gründe. Ermahnte ich mich.
Ein ohrenbetäubender Pfiff erklang auf dem Bahnsteig und ein Kribbeln durchfuhr meinen Körper. Es folgte eine Durchsage, die uns im Abteil nur dumpf und unverständlich erreichte. Wir sind wohl abfahrbereit.
Behutsam zog ich meine Uhr auf und steckte sie zurück in meine rechte Westentasche.
"Sarkorska ist ja für sein gesammeltes Wissen bekannt", stellte Robert fest. Der eiserne Griff um seine Aktentasche hatte sich endlich gelöst. Zumindest für den Moment hatte ich seine Sorgen wohl zerstreuen können. "Für eine vergleichsweise junge Nation, steht sie an der Spitze der Wissenschaft. Aber warum "entführt" ihr dafür Forscher anderer Länder?"
"Sarkorska geht es nicht darum, einfach nur Wissen zu sammeln", begann ich zu erklären. "Die Nation Sarkorska ist darum bemüht, die wissenschaftlichen Interessen zukünftiger Generationen und die sozialen Interessen der Lebenden in Einklang zu bringen. Eine reine Sicherstellung beispielsweise deines Wissens würde hier zu kurz greifen. Zum einen ist es mit deiner Fachexpertise einfacher, Forschungsergebnisse zusammenzuführen und weiterzuentwickeln. Zum anderen und das ist aus Sicht von uns Korrektoren der schwerwiegendste Grund, würde dein Wissen in weiterentwickelter Form möglicherweise kriegsentscheidend sein."
"Will Sarkorska denn Krieg?!", fragte Robert erbost. Er sprang dabei fast auf.
"Mit Nichten", antwortete ich kühl. "Aber der Machtanspruch des Imperiums Raktaran werden ein paar Diplomaten nicht vom Tisch wischen können."
Aufseufzend kratzte ich mich am Kopf. "Ja, ich weiß, ich weiß. Was wir hier gerade machen, ist auch nicht gerade friedensfördernd. - Ist ein Krieg denn unausweichlich?", fragte ich rhetorisch.
"Nein", brummte Leon und riss im nächsten Moment die Augen weit auf. Im Flüsterton schob er nach. "Scheiße."
Ich verkniff mir ein Schmunzeln. "Bitte erklär Robert unsere Postion, Leon."
"Mhmmm ...", brummte Leon in sich hinein. Sein Blick suchte im Bahnhof nach einem Ausweg. Erneut erklang dieser ohrenbetäubende Pfiff, gefolgt von einem etwas deutlicheren Kribbeln. Kurz darauf setzte sich der Zug in Bewegung. Leichte weiße Dampfschwaden stiegen die Waggons empor. Sie verschwanden wieder, als die Geschwindigkeit zunahm.
"Nun …" Leon richtete sich in seinem Stuhl auf und war so bereits im Sitzen einen halben Kopf größer als Robert und ich. Langsam krempelte er seinen linken Ärmel zurück. "Die Forschung in Raktaran unterliegt keiner Moral, keinen Gesetzen. Solange das Ziel erreicht werden kann, ist jedes Mittel recht."
Sein Arm war übersät von Narben. Einige klar von Schnittwunden, andere von Verätzungen, Frostbrand war auch vertreten, bis hin zu einfachen Brandwunden. Aus den Wunden ragten vereinzelt Kristallsplitter verschiedener Größe hervor. Andere schimmerten durch die Haut hindurch.
Robert wich unterdessen die Farbe aus dem Gesicht.
"Freddy und ich. Wir waren Versuchskaninchen." Aus dem Schimmern wurde ein Leuchten. Leichte Flammen unterschiedlicher Färbung züngelten auf seinem Arm.
"D... Das ist deine ..." Robert schaute entsetzt zu mir.
"Das ist Richards Forschungsgebiet." Leon hielt mir den Arm hin. Ich wischte über ihn und die zündelnden Flammen erloschen. Die gereizte Haut beruhigte sich wieder. Doch die Narben und verbleibenden Seelenkristalle würde ich ihm wohl niemals nehmen können.
"Die Akademie missbrauchte seine Ergebnisse. Seine Hypothesen wurden an uns getestet. Wir ... Wir ..." Leons Hände ballten sich zu Fäusten. Ohne zu zögern, ergriff ich seine linke Faust für einen Moment. Er atmete durch.
"Leon und Freddy waren die einzigen beiden, die ich retten konnte", übernahm ich. "In dem Wissen, wie weit das Imperium bereit war zu gehen, kam ich zu dem Schluss, diesen Fortschritt so weit mir möglich zu stoppen und die Forschung wieder ihrem rechtmäßigen Platz zuzuführen. Wenn wir einen Krieg verhindern können, so werde ich jedes erdenkliche Mittel dafür ergreifen. An dieses Versprechen bin ich Leon und Freddy gegenüber gebunden."
"Pffff ..." Robert atmete gepresst aus. "Es gibt sie also tatsächlich."
"Ja, vermutlich schon sehr lange", antwortete ich. Experimente an Menschen sind höchst umstritten. Selbst in Sarkorska tut sich der Ethikrat mitunter schwer, bestimmte Forschungsgebiete überhaupt zu bewerten, geschweige denn zu erlauben.
"Er meinte, du erforschst dieses Gebiet immer noch." Falten legten sich über seine Stirn. "Mit Menschenexperimenten?"
"An mir selbst, ja", sagte ich trocken. "Ich suche nach Methoden, das invasive Einbringen von Seelenkristallen rückgängig zu machen oder zumindest die Wirkung zu unterbinden. Denn in Raktaran wird mit Sicherheit weiter daran geforscht. Auch wenn ich alles vernichtete, was ich finden konnte."